„Ich bin das Tun, das meine Wünsche zunichte macht.“
Über die Zeichnungen von Irene Hardjanegara
Unzählige feine Linien in leuchtendem Rot ziehen sich dicht nebeneinander von oben nach unten über einen großformatigen Papierbogen. In ihren feinen Unebenheiten erweisen sie sich als von Hand gezogene: am linken Rand noch beinahe gerade, wölben sich die filigranen Linien nach rechts hin immer deutlicher in einem unregelmäßigen Rhythmus über das Blatt und verleihen der Komposition eine körperlich anmutende Textur.
Obwohl die künstlerischen Mittel selbst äußerst sparsam sind – nicht mehr als rote Tuschelinien – ist Irene Hardjanegaras Zeichnung STRUCTURE AND DYNAMICS OF LARGE SCALE CASCADING FAILURE #2, 2017, von einem unerschöpflichen Detailreichtum geprägt. So bleibt jeder Versuch einer exakten Beschreibung eigentümlich ungenau. Schließlich sind alle Linien einzigartig, ihr Übergang zum Weiß des Papiers flimmernd, keine schnurgerade, jede zieht sich in ihrem eigenen individuellen Farbverlauf über das Blatt. Dabei scheinen sich die Linien gegenseitig in Schwingung zu bringen. An manchen Stellen ist der Abstand von der einen zur nächsten etwas enger, an anderen berühren sie sich, laufen ineinander. So ergeben sich Verdichtungen, die der einfarbigen Zeichnung feine Hell-Dunkel-Abstufungen verleihen. Die nuancierte Korrespondenz der Linien lässt dabei keine nachvollziehbare äußere Logik erkennen, sondern scheint vielmehr zufällig entstanden, fast natürlich gewachsen zu sein. Völlig fremdartig und doch vertraut, erinnert die Zeichnung in ihrer sanften Bewegung an Wellen, die Maserung von Holz oder das zufällige Fallen eines Stoffes. Dabei geht eine besondere Lebendigkeit von ihr aus, als würde sie vibrieren – jede Linie ein Ereignis. Angesichts ihres organischen, arbiträren Charakters mag der Ausgangspunkt der Zeichnung umso mehr überraschen, ist er doch ein zutiefst artifizieller. Hardjanegara zeichnet nach einem festem System, einem simplen Set an Regeln, das die Künstlerin zu Beginn ihres Arbeitsprozesses festlegt – hier: Ziehe, vom linken Rand des Papiers ausgehend, exakt parallele Linien von oben nach unten, sie sollen an jeder Stelle den gleichen Abstand voneinander wahren. Abgeschlossen ist die Zeichnung, wenn die letzte Linie das andere Ende des Blattes berührt. Jede Abweichung wird – um den vorgegebenen Abstand zwischen den Linien beizubehalten – in die darauffolgende Linie mit aufgenommen. Im Prozess des Zeichnens selbst sollen keine Urteile oder Entscheidungen getroffen werden, auch nicht über das Zeichenmaterial und dessen Abnutzung, die unbehelligt mit in die Zeichnung eingeht. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Serie Ewige Teufe, 2016. Fünf Millimeter lange Striche sind hier entlang einer willkürlich gesetzten Linie aneinandergereiht. Die dabei entstandenen orangenen Farbabstufungen sind nicht intentional gesetzt, sondern ergeben sich aus dem zunehmenden Schwinden der Filzstiftfarbe. Das Ergebnis: Linien wie Gesteinsschichten.
Als das subjektive Ausdruckmedium wird der Handzeichnung klassischerweise eine äußerst enge Beziehung zu ihrem Schöpfer und dessen Fühlen und Denken nachgesagt. Mehr noch als die Malerei vermag das Zeichnen durch seine vermeintliche Unmittelbarkeit und Spontanität ein direktes Zeugnis der inneren Impulse und Regungen des Künstlers zu schaffen, scheint das Gezeichnete doch „noch im Fluss […], noch von der Hitze der zugrunde liegenden Phantasie aufgewirbelt“1. Hardjanegara lässt ihren Zeichnungen dagegen keinerlei Spielraum für bedeutungsschwere Entwürfe oder impulshafte Gebärden, im Gegenteil: Subjektive Affekte werden zurückgedrängt zugunsten eines disziplinierten Befolgens des festen und zugleich willkürlich anmutenden Regelwerkes, das eine höhere Sinnhaftigkeit dezidiert negiert. Damit geht die Künstlerin auf Distanz zum Pathos der schöpferischen Geste und des individuellen Ausdrucks. Die Loslösung von Emotionalität und Genietum zugunsten von Wiederholung und Systematisierung mag an Praktiken der Minimal und Conceptual Art der 1960er und 70er Jahre erinnern. Hardjanegaras Zeichnungen sind Arbeit, nicht Ausdruck. Nach Plan – an bestimmten Tagen und Uhrzeiten – zeichnet die Künstlerin in ihrem Atelier. Disziplin, Kontrolle und Akribie – Zeichnen wie am Fließband. Und doch, trotz steter Übung und Optimierung ihres Arbeitsprozesses, der Körperhaltung beim Zeichnen, des spezifischen Drucks des Stifts auf dem Papier – die perfekte Umsetzung der Regeln bleibt unerreicht: ein kontingentes, flirrendes Gewebe anstelle einer logischen Idealstruktur. Die strenge Monotonie, die der konzeptionelle Rahmen der Arbeit vorgibt, ist der Zeichnung in ihrer überbordenden Mannigfaltigkeit kaum anzusehen. Am linken Rand lässt sich das Bestreben noch deutlich ablesen bis die Zeichnung nach rechts hin immer weiter aus den Fugen gerät – von Fehlern in Bewegung gebracht.
Der Schaffensprozess gleicht einer Versuchsanordnung, bei der die Künstlern ihrem eigenen Tun als erwartungsvolle Unwissende gegenübersteht. Fast so, als würde die Zeichnung von selbst entstehen, scheint sich der Lauf der Linien schon mit dem ersten Ansetzen des Stiftes zu verselbstständigen. So sind die einzelnen Linien geprägt von einer wechselseitigen Bedingtheit, jeder Strich verweist zurück und voraus, nimmt die Abweichung des vorherigen auf, fügt ihm eine neue hinzu, bedingt den nächsten. Neues entfaltet sich in Reaktion auf Dagewesenes und wird selbst wieder neu definiert durch Darauffolgendes. Im ersten Strich ist damit bereits angelegt, was den letzten ausmacht, ohne dass dessen Gestalt vorherzusehen wäre. Die kleinste Abweichung potenziert sich zu großen Wellen, die sich erst mit dem Zug des letzten Strichs in Gänze zeigen. Linien wie Dominosteine, Fehler, wie kleine Lawinen, die sich mit mehr und mehr Linien-Geröll über die weiße Fläche ziehen. So zeigt sich die Zeichnung nicht, wie man mit Blick auf das feste Regelwerk zunächst annehmen könnte, als reine Umsetzung von bereits Gefundenem, sondern vielmehr als eine tastende Bewegung. Eine Suche nach der Form, die erst nach und nach im Zeichnen selbst stattfindet.
So wächst die Zeichnung nach einem genauen Plan, nur um sich dieser Planbarkeit zu entziehen. Nichts scheint an den Werken mess- oder vorhersehbar. So starr und reglementiert die Zeichnung beginnen mag, so grundsätzlich offen für die Unvorhersehbarkeit der Formbildung ist sie zugleich. Die autoritäre Regelhaftigkeit richtet sich schließlich gegen sich selbst, schlägt um in Kontingenz. Trotz aller Kontrollversuche, das Werk ist ein ‚zugefallenes‘. Erst nachträglich kann die Künstlerin ihr eigenes Tun überblicken. Diese Widerspenstigkeit der Zeichnung gegen das logische Regelwerk ist allerdings nicht zu verwechseln mit einer Absage an das Rationale zugunsten eines psychischen Automatismus. Anstatt aus den Tiefen des Unbewussten ergeben sich die flimmernden Strukturen aus der Unzulänglichkeit der Künstlerin, aus dem Zittern der Hand, der Eigendynamik des Materials. Was wir sehen ist weder Zeugnis einer Intention, noch eines Gefühls, sondern Fehler – fast seismisch aufgezeichnet, in Rotstift.
Hardjanegaras Skepsis gegenüber dem Pathos des Subjekts und seines Vermögens kommt dabei nicht schlicht seiner Negation gleich. Ein viel ambivalenteres Verhältnis hegt die Künstlerin zu ihren Zeichnungen. So sehr sie ihr Regelwerk zwischen sich und ihre Linien schiebt, so eng ist die Zeichnung gleichzeitig an die Künstlerin, an ihre Zeit und ihren Körper gebunden. Werke wie STRUCTURE AND DYNAMICS OF LARGE SCALE CASCADING FAILURE #2 können immer auch als intimer Zeitspeicher, als Zeugnis eines persönlichen Rituals verstanden werden. Auf Grund der Großformatigkeit der Blätter schreibt sich dabei auch der Körper der Künstlerin deutlich in ihre Zeichnungen ein – jede Linie ist auch eine Spur. So sitzt Hardjanegara nicht in überblickender Position vor ihrem Blatt, sondern zeichnet stehend. Das Papier auf einem speziell angefertigten Tisch platziert, bewegt sie sich, die maximale Spannbreite ihres Körpers einsetzend, an ihrer Zeichnung entlang, und ist dabei so nah am Gezeichneten, dass das 150 x 240 cm große Format beim Ziehen der einzelnen Linie niemals im Ganzen zu überschauen ist. Diese Perspektive eines körperlich involvierten, taktilen Moments des Zeichnens bricht sich schließlich in den Fehlern der Zeichnung Bahn. Minutiös speichern die Linien ihren eigenen Entstehungsprozess: wie sich der Tuschestift mit dem Druck der Hand und dem Papier vertrug – jedes Zittern, jedes Stocken, die kleinste Abweichung. Noch nach der Fertigstellung der Zeichnung ist es nicht die Gegenwärtigkeit einer (ab-)geschlossenen Komposition, sondern die Temporalität, die Anfänglichkeit ihres Entstehens, die das Blatt prägt.
Mit dem Fehlerhaften, dem Unerreichten, dem Nicht-Wissen mag man eine Melancholie in Hardjanegaras Zeichnungen erkennen, die durch die Leichtigkeit und Fragilität des Strichs jedoch ohne schwerfälligen Pathos, ohne große Gesten auskommt. Vielmehr geht diese immer auch einher mit einer Emphase des Entstehens, der Offenheit und Potentialität der zeichnerischen Form. Jede Linie der Beginn, ein neuer Pfad. Das Wagnis des Anfangs ist nicht ohne den Mangel zu haben. Auch für die Betrachtenden. Die Zeichnungen lassen sich nicht festhalten mit Blicken oder Worten. Sie erwecken den Eindruck, als würden sie sich über ihr Format hinwegsetzen, formulieren kein in sich geschlossenes Bild, sondern vielmehr den Ausschnitt aus einem Linienkontinuum, das dem Auge keinen Punkt bietet zum Festhalten. Zu nah muss man herantreten, um das Linienspiel im Detail wahrnehmen zu können. Niemals kann es im Ganzen erblickt werden. Auch das Sehen ist nicht vor dem Scheitern gefeit. Und gleichzeitig liegt genau hier die Lust an jeder Linie, ihren Eigenheiten, ihrem Spiel, die Emphase des Anfangs – immer wieder aufs Neue, immer wieder anders schauen. So obsessiv die Künstlerin zeichnet, so obsessiv kann man auch betrachten.
Was ich mir selbst Unbekanntes in mir trage, das macht mich erst aus.
Was ich an Ungeschick, Ungewissem besitze, das erst ist mein eigentliches Ich.
Meine Schwäche, meine Hinfälligkeit.
Meine Mängel sind meine Ausgangsstelle.
Meine Ohnmacht ist mein Ursprung.
Meine Kraft geht von euch aus.
Meine Bewegung geht von meiner Schwäche zu meiner Stärke.
Meine wirkliche Armut erzeugt einen imaginären Reichtum: und ich bin diese Symmetrie
Ich bin das Tun, das meine Wünsche zunichte macht.2
1 Vgl. dazu Heinzelmann, Markus: „Vernähte Perspektiven. Erzählung und Konzeptualität in der aktuellen Zeichnung, in: Ausst.kat. Gegen den Strich. Neue Formen der Zeichnung, Baden-Baden (Staatliche Kunsthalle Baden-Baden) 2004, S. 10–17, S. 30.
2 Paul Valery: „Monsieur Teste“, zit. nach Christoph Menke: Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 5.